Eine unumgängliche Reise
Rabbiner Stephen Fuchs
Ich wusste nicht, was in dieser Nacht 1938 passiert war, bis ich im Alter von 22 Jahren mein Graduiertenstudium am Hebrew Union College in Los Angeles begann, um Rabbiner zu werden. Bei der Semestereröffnung berichtete der Dekan und spätere Präsident des Kollegs, Rabbi Alfred Gottschalk, wie er als achtjähriges Kind in der kleinen Stadt Oberwesel seinen Großvater in den Rhein waten sah, um verkohlte Fetzen der Tora-Rolle zu retten, die Nazis aus der brennenden Synagoge geworfen hatte.
Als ich Rabbiner Gottschalks Kindheitsbericht von der Kristallnacht hörte, wusste ich noch nicht, dass mein eigener Vater hier in Leipzig genau in der Nacht verhaftet wurde. Als ich das erfuhr, beschloss ich, diesen Ort eines Tages aufzusuchen. Die Möglichkeit eröffnete sich im Sommer 1982.
Als mein Zug in Leipzig’s riesigen Bahnhof einrollte, wurde mir bewusst, dass mein erster Blick auf die Stadt der letzte meines Vaters gewesen sein könnte, als er in einem ganz anderen Zug als Häftling nach Dachau fuhr.
Mit einem genauen Stadtplan von der Tourist Information versuchte ich Straße und Wohnung zu finden, wo mein Vater aufwuchs. Auch den Zoo suchte ich. Warum den Zoo? Der Augenzeuge der Kristallnacht David H. Buffum, damals amerikanischer Konsul in Leipzig, berichtet: ” Jüdische Wohnungen wurden gestürmt und geplündert… Ein achtzehnjähriger Junge wurde vom dritten Stock aus dem Fenster geschmissen. Er brach sich beide Beine… Drei Synagogen gleichzeitig wurden mit Brandbomben beworfen und viele Juden wurden im Zoo zusammengetrieben und dort in den Bach gestoßen. SS-Männer befahlen den schockierten Zuschauern sie zu bespucken, zu verspotten und mit Schlamm zu bewerfen.“
Als ich am Eingang zum Zoo ankam, war es viertel vor sieben. Die Ticketverkäuferin sagte, ich wäre zu spät: „Der Zoo schließt um sieben.“ „Das ist in Ordnung“, antwortete ich und reichte das Eintrittsgeld hinüber, „ich brauche nur ein paar Minuten.“
Sie protestierte, doch ich blieb hartnäckig, bis sie mich schließlich passieren ließ. Nach wenigen Minuten stand ich an dem Bach. Tränen stiegen mir in die Augen und ich hörte mich selbst laut sagen: „Ist dies der Ort? Haben sie dich hier hergebracht haben, Papa? Haben diese Bastarde dich bespuckt… haben sie dich mit Dreck beworfen?“ Dann, wie als Vergeltung, spuckte ich von einer Brücke aus in den Bach.
Am nächsten Morgen fand ich das Büro der Jüdischen Gemeinde Leipzig. Eine ältere Dame öffnete die Tür und erklärte mir, dass der Gemeindeleiter nicht da sei, aber bald wiederkommen würde. Ich erzählte ihr, dass mein Vater in Leipzig aufgewachsen sei. Sie zog ein staubiges Familienregister aus dem Regal und öffnete es bei „f“. Sehr schnell fand ich die Eintragungen über meine Familie. Währenddessen kam der Gemeindeleiter herein. Ich sagte ihm wer ich sei und was ich wollte. Er war herzlich, freundlich und offensichtlich erfreut, dass ich da war.
Ich fragte ihn: „Wie viele Juden gibt es in Leipzig?“ „67“, antwortete er. „Und wann gab es hier die größte Zahl jüdischer Einwohner?“ „1935“ , antwortete er, „18000 Juden lebten damals in Leipzig.“ „Und wie viele sind im Holocaust umgekommen?“ fragte ich. „14000“, antwortete er.
Die zwölfstündige Bahnfahrt nach Amsterdam gab mir reichliche Zeit, meine Erfahrungen in Leipzig zu verdauen. Natürlich dachte ich an meinen Vater. Nach der Verhaftung in der Kristallnacht brachten die Nazis ihn nach Dachau, wo sie ihm den Kopf schoren, ihn verhörten und misshandelten.
Aber Leo Fuchs gehörte zu den glücklichen. Da er Verwandte in den USA hatte und sein Visum bereits genehmigt war, erwirkte das US-Konsulat nach wenigen Tagen seine Freilassung.
Er hat mit mir nie darüber gesprochen. Aber ich weiß, dass das Trauma ihn immer gequält hat. Im Frühjahr 1969 wurde mein Vater schwer krank. Ich flog von Los Angeles, aus meinem Rabbinatsstudium, nach Hause in New Jersey, um bei ihm zu sein. Ich werde nie das Gefühl der Hilflosigkeit vergessen, als ich das Krankenhauszimmer betrat und mein Vater mich im nur halb bewussten Zustand nicht erkannte.
Ich stand da und es schüttelte mich, als er anfing auf Deutsch – was er Zuhause nie gesprochen hatte – zu schreien. Ich fragte meinen Onkel: Was hat er gesagt? Mein Onkel antwortete: Er durchlebt die Erinnerungen an die Kristallnacht. Er schreit, die Wärter sollten aufhören ihn zu schlagen. Mein Vater hatte diese Erinnerung über dreißig Jahre unterdrückt.
Im Großen und Ganzen waren das gute Jahre gewesen. In den USA hatte er seine große Liebe gefunden und eine Familie gegründet. Ich aber – und das mag irrational sein – beschuldige die Nazis sein Leben verkürzt und mir geraubt zu haben, meine größten Freuden mit ihm zu teilen: meine Ordination zum Rabbiner, meine Heirat mit Vickie, unsere Kinder und Enkel.
Mein Vater wurde 57 Jahre alt. Seine älteren Brüder, die Deutschland vor der Kristallnacht verlassen hatten, aber lebten gesund bis in ihre achtziger Jahre hinein.
Unsere Kinder! Sie sind die Antwort unseres Volkes auf Hitlers Wahnsinn. Für uns Juden ist jedes neue Leben wie ein junger Baum – gepflanzt nicht nur zur Freude seiner Familie, sondern auch um einen einst üppigen Wald neu zu beleben, der von Feuer, Rauch und Gas verwüstet wurde.
In Europa sind von drei Juden zwei umgekommen.. In Leipzig von neun Juden, sieben.
Wir lernten den Begriff “Genozid”, mit dem wir zu definieren versuchen, was Hitlers Absicht war: Den Genpool unseres Volkes ausrotten.
Deshalb befehlen wir uns selbst: Zachor! Erinnere! Aber wenn wir uns nur erinnern, um im eigenen Leid zu baden. verschwenden wir unsere Zeit und unsere Tränen. Wir müssen uns daran erinnern, was war, damit wir schaffen können, was besser ist.
Die Leute fragen mich beständig: “Wie konnte Gott den Holocaust zulassen?” Ich antworte, dass Gott den Menschen einen freien Willen gab und uns Auftrag und Verantwortung für die Welt übertrug. Ohne freien Willen hätte das Leben keinen Sinn. Wir Menschen wären nichts als Marionetten oder Schauspieler, die nicht vom Drehbuch abweichen könnten.
Gott sehnt sich danach, dass wir eine Welt der Gerechtigkeit und des Mitgefühls schaffen. Aber Gott tut es nicht für uns. Wenn wir versagen ist es unser Versagen, nicht Gottes. Ich glaube, Gott weint mit uns und um uns, wenn wir versagen.
Ich wandte mich von dem Bach, der durch den Leipziger Zoo fließt, ab und kam an einem Bau mit Timberwölfen vorbei. Es war ein natürliches Gehege und wirklich ein schöner Anblick. Eine Wolfsmutter stand ganz still, während zwei Welpen glücklich an ihrer Brust nuckelten.
Zuerst fühlte es sich sehr unpassend an, solch einen wunderbaren Moment natürlicher Harmonie and einem Ort zu sehen, der für mich Unfrieden und Zerstörung repräsentiert. Doch auf der langen Bahnfahrt nach Amsterdam blieben meine Gedanken an diesem Bild hängen. Meine inneren Augen wanderten immer wieder vom Bild der Gewalt, des Hasses und des Leides zu der friedlichen, idyllischen Szene wie die Wolfswelpen aus ihrer Mutter Nahrung und Kraft saugten.
Welche Ironie! Ich weiß, dass Nazis und Neo Nazis den Wolf als Symbol verwenden. Das ist ein Missbrauch. Wölfe töten nicht aufgrund von Vorurteilen, Hass oder Ideologie. Sie töten um sich zu ernähren und sind damit Teil der natürlichen Balance. Wie bewegend, dass an dem Ort, wo ich meines Vaters schreckliche Erfahrung durchlebte, Wölfe mich getröstet haben als Zeichen, dass die Liebe und das Gute stärker sind als der Hass und das Böse.
Der Leipziger Zoo wird für mich für immer das schreckliche Böse repräsentieren, das Menschen zu tun im Stande sind. Die Wölfe aber werden immer Harmonie symbolisieren, die wir nach Gottes willen in dieser Welt schaffen sollen.
Am Morgen des Jom Kippur lesen wir Reform Juden einen der wichtigsten Texte der Tora (Dt.: 30,15): „Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse.“ Wir haben die Wahl, aber Gott ermahnt uns: Wähle das Leben, damit du am Leben bleibst, du und deine Nachkommen (Dt 30.19)
Nein, die Frage ist nicht: Wo war Gott während des Holocaust? Die Frage ist: wo war die Menschlichkeit?
Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können davon lernen. Wir wissen all zu gut, dass wir den Tod wählen können. Doch Gott hofft, dass unsere Vergangenheit uns für die Zukunft stärkt, dass wir durch den Schmerz, den wir heute erneut durchleben mutig werden:
Die Nackten zu kleiden,
Hungernden Essen zu geben,
Ungebildete zu lehren,
gegenseitiges Verständnis unter den Menschen zu fördern.
Und die großartigen Begabungen, mit denen Gott uns gesegnet hat, zu nutzen, um das Leben zu wählen, und eine Welt der Gerechtigkeit, der Fürsorge, des Mitgefühls und des Friedens zu schaffen. Dann verwirklichen wir die Welt, von der die Propheten träumten, indem sie sagten:
“They shall not hurt nor destroy in all of My holy mountain for the earth will be filled with the knowledge of the Lord as the sea bed is covered by water
And all shall sit under their vines and under their fig trees and none shall make them afraid! (Isaiah 11:9, and Micah 4:4)”
Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des Herrn sein, wie Wasser das Meer bedeckt (Isaiah 11:9)
Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen und niemand wird sie schrecken. (Micah 4:4)
Amen
Übersetzung Ursula Sieg, Oktober 2014
Lo siento, pero no hablo aleman.
Translation:
Sorry, but I don’t speak German.
My Spanish sentence probably makes no sense to you. I have no idea what your essay says. Please translate.
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I understand, of course, Lisa. Most of those who read my blog either here or on Facebook, Twitter or LinkedIn do not read German either. But it was very important to me to post my speech in the language in which I delivered it! In so doing I also want to give those for whom German is their mother tongue a chance to read it.
Of course I will publish the speech in English on my blog. But give me some time to deal with the swirl of activities our last week in Germany will include before I clean up and present the English version for those who I hope will find it of interest.
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I wish I could read German, but I know once you anchor in back home, you’ll post the English version.
Glad you’re home safe, friend.
Truth wins,
Dani
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Dear Mr. Fuchs,
I just by chance came across your blog post “German of Thomaskirche Kristallnacht Speech: A Trip I had to Make”, read it, and now feel I must do my best to tell you a story that I was told by a dear friend that I briefly new for a few years before he died. I am a painter and not the best with words but hope to be able to bring it across to you in the most sincere way.
One day shortly after moving my art studio into an old store front on Arthur Hoffmann Str. in Leipzig, I was welcomed to the building by a kind elderly couple named the Bernsteins. They lived on the first floor above my studio. My German was very poor and the Bernsteins spoke only a few words of English but they told me many stories about their families, the war, and the GDR. The stories started out easy and simple and were often followed by questions for me and if I had known about such events. It started out that Herr Bernstein would visit me while I was painting, but I was soon helping them carry groceries or delivering them coal from their basement. These chores were always followed by sweet coffee in their kitchen and occasionally a session of show and tell. As time went on the stories became deeper and often seemed as though they may not have been told before.
One such story was told to me while Frau Bernstein was out having her hair done. Herr Bernstein started by telling me about a bright young man that was his mate, his friend, someone who he quite adored. They were pals. He told me about the boys family and then mentioned they were Jewish. Herr Bernstein froze standing at the edge of the table with his age worn hands clenching the sides of the tabletop and he began to cry. I could see him relive the moment that he began to tell me. He told me of how when he was a German soldier he was ordered to go to the Leipzig Zoo where many Jews had been held. My understanding was that the captured Jews were held in some sort of sub-level area where animals should have been on display. A place where you could look down into the space from above. Herr Bernstein wanted me to understand this story. It was important. He was confessing of his disgust for the Nazis and failure to do the right thing. He explained that as he went over to see what was going on, he went by the other German soldiers and looked down in the pit. He said he was shocked to see all of the people. He could not believe it. He was ashamed and horrified. Soldiers were yelling down at them, spitting on them, one soldier even urinated on them from above. Mr. Bernstein was outraged and tried to shame the soldier to stop. Herr Bernstein was struck and knocked to the ground. With tears running down his face he looked at me and pointed to the kitchen floor. He sobbed and told me he saw his school time friend down in the pit. He was so ashamed to confess he was not able to help his friend. That young man look up at him and recognized Herr Bernstein. He could see Herr Bernstein being kicked and spit on. He was silenced. Mr. Bernstein was there, saw the horror, but was not able to save his friend.
I share this story with you not to make light of your experience visiting the Zoo or to try to make excuses for the Germans. After reading your account of the captured Jews at the Zoo, I thought that if you knew about how at least one person tried stop the madness, how the victims might have witnessed how at least on German soldier knew what was happening was wrong and tried to stop the soldiers, that this might mean that God was at work during this terrible and hopeless event. Herr Bernstein said he could see strength in his friend’s eyes looking up at him. He could still see him and was crushed while telling me about this event.
The peculiar reason that I came across your blog and somehow this article is because you and I share the same name.
I wish you well.
Sincerely,
Stephen Lewis
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